Kostproben
1
Keimfrei durchs Leben
«Wasser gibt blaue Därme», warnte mein Patenonkel jeden, der es hören mochte, und fügte gerne an, sein Grossvater sei als Präsident des Bürgerspitals Basel zuständig gewesen für die Auswahl und den Einkauf der Weine.
Das bedeutet, der oberste Chef sorgte vor über 100 Jahren persönlich dafür, dass statt verschmutztem Kanalwasser sauberer Wein in die nach Heilung dürstenden Kehlen der armen Kranken floss. Allein mit dieser Massnahme hatten sie den halben Weg bis zur Genesung bereits hinter sich. Die verbleibende Streckenhälfte brachten sie friedlich dösend und leicht berauscht hinter sich. Das hat mein Patenonkel verinnerlicht, zumal die medizinische Fakultät seinem Grossvater in Würdigung seines Einsatzes 1911 den Titel des Ehrendoktors verliehen hatte.
Unter diesen Vorzeichen trank mein Pate jahrein, jahraus zu jedem Essen beherzt seinen einfachen, aber keimfreien Tischwein und spätabends noch ein Glas beruhigendes Bier. Zum «Verbrennen», wie er es nannte, verordnete er sich nach der reichhaltigen Mittagsmahlzeit überdies schwarzen Kaffee und dazu immer einen Schnaps. In Gedenken an seine Mutter verfolgte er damit ein weiteres gesundheitsförderndes Ziel: Sie hatte ihn gelehrt, Steinobst kühle und Kernobst wärme. Also wechselte er immer zum Frühlingsbeginn am 21. März vom winterlichen Wärmespender, seinem Walliser «Marc» aus vergorenem, kernigem Traubentrester, zum steinigen Baselbieter Kirsch, der ihn bis zum 21. September vor Überhitzung bewahrte. An Werktagen wandelte er dann jeweils um 13.45 Uhr wieder in seine Treuhandfirma, die er erst im Alter von 70 Jahren einem Nachfolger übergab.
Kerngesund und mit beinahe steinerner Gelassenheit lebte er dann noch 31 weitere Jahre, ohne je von seinem tief verankerten Trinkhabitus abzurücken.
Erst kürzlich erfuhr ich von einer alten, weisen Bäuerin, was es mit dem Kernobst und dem Steinobst auf sich hat: Mit solchen Schnäpsen rieben sie früher den Unterleib der Kühe ein, um sie von ihren quälenden Blähungen zu befreien und um ihre Temperatur zu regulieren.
2
Immun ist wer sich anpasst
Die vom Immunsystem, wo sind die eigentlich? Im 3. UG oder oben bei Dr. Cranius? Ich weiss es nicht. Dafür weiss ich, dass das Immunsystem meistens im Spiel sein soll, wenn wir uns angeschlagen fühlen oder ein-fach krank sind. Ich weiss auch, dass wir alles unternehmen sollen, um das Immunsystem zu stärken. Rezepturen dazu liefern alle: Vom Lebensberater über den Naturarzt bis zum Medizinprofessor mit goldgeränderter Brille. In ihrem Hinterland lauern die Produkthersteller. Zu jedem Ansatz bieten sie die passenden Artikel feil. Sie sind auch zur Stelle, wenn das Immunsystem trotz hingebungsvoller Pflege versagt. Meistens sind wir dann von Eindringlingen infiziert. Gegen sie bilden wir eine Antibiose, verordnet der Goldgeränderte. Ja kein solches Gift, das schwächt das Im-munsystem zusätzlich, predigt der Naturverbundene. Alles nur psychisch, wispert der Seelenkenner.
Die Ratschläge schliessen sich gegenseitig aus, und diese Leere führt über kurz oder lang zum Prinzip des Nichthandelns: Seit zwei Jahren sieht mein Wasser aus wie der naturtrübe Apfelsaft, den unsere Grossverteiler als Delikatesse verkaufen. Nach dem homöopathischen Ansatz müsste ich wohl davon trinken, um mein Wasser wieder zu klären. Genau das will ich aber nicht mehr. Ich habe gelernt, mit den trübenden Eindringlingen zu leben. Inzwischen habe ich erfahren, dass ich bei weitem nicht der einzige bin, der so verfährt.
Nichthandeln heisst, sich aktiv auch an scheinbar unmögliche Zustände anzupassen. Wir können das, und diese Fähigkeit ist die goldgeränderte Form der Immunisierung. Sie liegt unsichtbar in uns. Wir müssen sie aber nutzen. Sie hilft auch im Umgang mit Para- und Tetraplegien, vermute ich seit 43 Jahren.
3
‹Ansonsten munter – Einsichten eines Rollstuhlfahrers›
Der Einsteig auf Seite 13 (von insgesamt 217)
‹Ansonsten munter – Einsichten eines Rollstuhlfahrers› - so heisst mein biographisch geprägtes Buch. Im Mai 2019 ist es erschienen und so beginnt es:
Am 20. August 2013 treffe ich mich wieder mal mit Pierrot. Wir stehen im Jahre 36 unseres Lebens im Rollstuhl. Das feiern wir nicht. Dafür bejubeln wir immer wieder unsere Verbundenheit. 1977, in der Erstrehabilitation, lag Pierrot im Bett rechts neben mir im Schweizerischen Paraplegikerzentrum, das damals noch in Basel war. Wir hatten zwölf Wochen in Rückenlage abzuliegen. Unsere Köpfe und verletzten Halswirbelsäulen waren eingeschient. So sollten die Wirbel und im besten Falle auch das – bei mir gequetschte, bei Pierrot durchbohrte – Rückenmark wieder zusammenwachsen. Operationen galten damals als zu riskant. Besucher mussten sich über uns beugen, um uns ins Gesicht zu sehen. Setzten sie sich neben dem Bett auf einen Stuhl, ermöglichte ein auf einen Ständer geschraubter schwenkbarer Spiegel den Blickkontakt. Zuvor mussten sie ihn allerdings richten, denn gewöhnlich war er so gestellt, dass ich zu Pierrot rübersah. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel – das weiss ich seither. Sonst verstehe ich nichts von Physik.
Wir befanden uns zu sechst in einem Viererzimmer, ich zum Glück am Fenster. Der Blick ins Freie, in den zumeist grauen Himmel, zerstreute mich etwas und liess mich in diesem überfüllten Raum in die Weite schweifen. Nach der schier endlosen Liegezeit durften wir zusammen in eines der beiden Zweierzimmer im ersten Stock des Hauses. Ursprünglich waren es Einerzimmer. Trotzdem war das ein grosses Privileg. Glück im Unglück.
Pierrot hatte die Zeit unmittelbar nach der Rückenmarkverletzung in Lausanne in einem sogenannten Sandwich-Bett verbracht. Erst als ich den Fensterplatz schon belegt hatte, stiess er zu uns. In seinem Gepäck hatte er Kassetten mit Musik der Rolling Stones und von schwarzen Blues-Interpreten. Ich hatte ein altes, schon lange nicht mehr benütztes Abspielgerät. Die andern vier im Zimmer waren nicht erfreut. Wir vereinbarten mit ihnen, dass sie uns jeden Tag eine Stunde Stones und Blues gewähren. Dafür erzählte Pierrot in der übrigen Zeit unablässig unanständige Witze. Die stellten alle zufrieden.
Nach dem Einstieg kriegen Sie sogar den Ausstieg, die allerletzten Sätze, kriegen Sie zu hören:
Pierrot hatte vielleicht mal höhere Erwartungen, sie aber mit Humor und einer Prise Fatalismus den Umständen angepasst. Trotzdem durchlebte auch Pierrot seine dunklen Momente. So ergeht es uns allen. Dann haben wir unseren Blues. Er wurzelt im leidvollen Dunkeln. Im Blues besingen die Menschen, wie schwer sie es doch haben, ansonsten aber munter sind. Der Blues war Pierrots Musik. Dank ihm ist er auch meine geworden.
4
‹Das achte Weltwunder›
Aus der Erzählung ‹Das achte Weltwunder›
Die P/E-Ratio (PER) ist der Kürzel für Price-Earnings-Ratio, deutsch Kurs-Gewinnverhältnis (KGV). Der erwartete Gewinn, den ein Unternehmen im laufenden Geschäftsjahr erzielen sollte, wird in Bezug zum Aktienkurs gesetzt: Kurs geteilt durch den Gewinn pro Aktie ergibt die P/E. Sie ist eine Faktorzahl. Für eine Aktie von Lamborghini wäre Steve bereit, diesen von Finanzanalysten – hoffentlich richtig – geschätzten Jahresgewinn 25 Mal zu bezahlen. Faktor 25 ist viel, Lamborghini wäre eine teure Aktie. Wenn der Gewinn im Laufe der Jahre stetig und stark steigt, würde sich der hohe Preis aber bald als günstig erweisen. Umgekehrt ist eine Aktie mit einer P/E-Ratio von 10 teuer, wenn sich ihre Gewinne in Zukunft laufend vermindern.
Theoretisch lässt sich das Konzept der P/E auch auf Immobilien übertragen. Wenn Jochens ‹Häusle› einen Ertrag von fünf Prozent einbringen, so haben sie eine P/E-Ratio von 20. 20 Jahresmieten entsprechen dem Ertragswert der Immobilie. Im Immobilienmarkt ist es aber unüblich, die Bewertung so auszudrücken. Auch am Viehmarkt ist nicht von P/E-Ratios die Rede. Intuitiv rechnet aber jeder Bauer, wie viel ihm die erhoffte künftige Milchleistung einer Kuh wert ist. Die Milch, die das Tier bis zu seinem Lebensende liefert, ergibt zusammen mit dem Schlachtwert den Marktpreis. Wer sich die Mühe nimmt, solche Preise nachzurechnen, wird feststellen, dass sie in den meisten Fällen stimmen – stimmen müssen, denn sonst würde das Preisgefüge kollabieren und mit ihm der Bauernstand.
5
‹Das Leben ist auch mit Behinderung lebenswert›
Uns Menschen sind Grenzen gesetzt. Im Wasser bestehen wir nicht lange, klettern fällt uns schwer, fliegen können wir gar nicht. Trotzdem versuchen wir immer wieder, den Rahmen zu sprengen, unseren Handlungsspielraum zu erweitern. Eine schöne Sage aus dem alten Griechenland veranschaulicht das. Auf der Insel Kreta hielt König Minos Dädalos und seinen Sohn Ikaros gefangen. Dädalos wusste, dass er und sein Sohn nur über die Luft entweichen könnten. So baute er für sich und seinen Sohn Flügel aus Vogelfedern. Diese Federn verknüpfte er oben mit Leinenfäden, unten mit Wachs.
Bevor die beiden losflogen, schärfte Dädalos seinem Sohn ein, ja nicht zu tief, aber auch nicht zu hoch zu fliegen. Unten, lehrte er Ikaros, sei das aufschäumende Wasser eine Gefahrenquelle, oben die Hitze der Sonne. Schliesslich erhoben sie sich in die Luft. Kunstvoll schwangen sie ihr Gefieder. Schon bald liess sich Ikaros genussvoll in höhere Luftschichten treiben und kam der Sonne gefährlich nahe. Ihre heissen Strahlen erweichten das Wachs, die Flügel lösten sich auf. Ikaros stürzte ins Meer.
Er hätte auch aufs Festland fallen - verunfallen können. So oder so würden wir einen solchen Sturz noch heute, wenn überhaupt, nur geschädigt überstehen. Der Druck auf den Schädel, der vorübergehende Sauerstoffmangel erschüttern unser Gehirn so, dass wir ein Schädel-Hirntrauma erleiden. Wir könnten auch rücklings aufprallen, die Wirbelsäule brechen und dabei das Rückenmark verletzen. Eine Querschnittlähmung, auch Paraplegie und Tetraplegie genannt, würde das nach sich ziehen. Die meisten Schädel-Hirntraumatiker und Rückenmarkverletzten müssen sich auf ein Leben im Rollstuhl vorbereiten.
Vergleichbar ergeht es vielen älteren Menschen, selbst wenn sie nicht verunfallen. Plötzlich zerstört eine Hirnblutung, auch als Schlaganfall oder Stroke bekannt, lebenswichtiges Gewebe im Gehirn. In seltenen Fällen ereilt das Unglück auch die ganz Kleinen: im Bauch der Mutter bildet sich die Wirbelsäule zu wenig aus und schützt das Rückenmark nicht. Das Kindchen kommt mit einer Spina bifida gelähmt zur Welt. Sauerstoffmangel bei der Geburt schädigt Hirngewebe des Säuglings. Eine Cerebralparese beeinträchtigt ihn fortan. Menschen mit solchen geburtsbedingten Behinderungen sind in vielen Fällen Zeit ihres Lebens an den Rollstuhl gebunden. Es gibt überdies Erkrankungen des Nervensystems, die im Laufe des Lebens eintreten, so etwa Multiple Sklerose oder Parkinson. Sie zwingen die Betroffenen meistens, ihr weiteres Leben mindestens teilweise im Rollstuhl zu führen.
Alle Behinderungen, alle unabänderlichen Einschränkungen, selbst vorübergehende Beeinträchtigungen, bedeuten, dass die Grenzen, die uns eh gesetzt sind, noch enger gezogen sind. Wer sich von Geburt an mit eingeschränkten Möglichkeiten abfinden muss, kennt gar nichts anderes. Geburtsbehinderte sehen zwar, dass ihre zahlreichen Mitmenschen mehr, viel mehr können als sie. Dennoch vergleichen sie nicht, weil sie ein anderes Dasein gar nie erlebt haben.
All die, denen das Schicksal dauerhafte spürbare Einschränkungen zugetragen hat, neigen dagegen zu Vergleichen. Sie unterscheiden zwischen «Vorher» und «Nachher». Sie fühlen sich behindert, die Gesellschaft bezeichnet sie auch als «Behinderte». Wie alle Menschen haben sie jedoch seit Kindesbeinen gelernt, dass wir immer wieder anstossen, geschubst und zurückgedrängt werden. Niemandem steht die Welt ganz offen, niemand ist schon als Tausendsasa zur Welt gekommen. Diese Grunderfahrungen öffnen den Weg, mit Einschränkungen, Behinderungen, körperlichem Versagen umgehen zu können. Das bedeutet, möglichst schnell zu lernen, aus scheinbar wenig viel zu machen, den gegebenen Rahmen zu sprengen. Wie alle anderen Menschen.
Behinderungen verändern unseren Grundtrieb, nach Glück zu streben, nicht. Dieses Streben vereint uns Menschen. Deswegen begegnen wir Menschen mit Behinderung am besten wie allen anderen.
Kostproben
1
Keimfrei durchs Leben
«Wasser gibt blaue Därme», warnte mein Patenonkel jeden, der es hören mochte, und fügte gerne an, sein Grossvater sei als Präsident des Bürgerspitals Basel zuständig gewesen für die Auswahl und den Einkauf der Weine.
Das bedeutet, der oberste Chef sorgte vor über 100 Jahren persönlich dafür, dass statt verschmutztem Kanalwasser sauberer Wein in die nach Heilung dürstenden Kehlen der armen Kranken floss. Allein mit dieser Massnahme hatten sie den halben Weg bis zur Genesung bereits hinter sich. Die verbleibende Streckenhälfte brachten sie friedlich dösend und leicht berauscht hinter sich. Das hat mein Patenonkel verinnerlicht, zumal die medizinische Fakultät seinem Grossvater in Würdigung seines Einsatzes 1911 den Titel des Ehrendoktors verliehen hatte.
Unter diesen Vorzeichen trank mein Pate jahrein, jahraus zu jedem Essen beherzt seinen einfachen, aber keimfreien Tischwein und spätabends noch ein Glas beruhigendes Bier. Zum «Verbrennen», wie er es nannte, verordnete er sich nach der reichhaltigen Mittagsmahlzeit überdies schwarzen Kaffee und dazu immer einen Schnaps. In Gedenken an seine Mutter verfolgte er damit ein weiteres gesundheitsförderndes Ziel: Sie hatte ihn gelehrt, Steinobst kühle und Kernobst wärme. Also wechselte er immer zum Frühlingsbeginn am 21. März vom winterlichen Wärmespender, seinem Walliser «Marc» aus vergorenem, kernigem Traubentrester, zum steinigen Baselbieter Kirsch, der ihn bis zum 21. September vor Überhitzung bewahrte. An Werktagen wandelte er dann jeweils um 13.45 Uhr wieder in seine Treuhandfirma, die er erst im Alter von 70 Jahren einem Nachfolger übergab.
Kerngesund und mit beinahe steinerner Gelassenheit lebte er dann noch 31 weitere Jahre, ohne je von seinem tief verankerten Trinkhabitus abzurücken.
Erst kürzlich erfuhr ich von einer alten, weisen Bäuerin, was es mit dem Kernobst und dem Steinobst auf sich hat: Mit solchen Schnäpsen rieben sie früher den Unterleib der Kühe ein, um sie von ihren quälenden Blähungen zu befreien und um ihre Temperatur zu regulieren.
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Immun ist wer sich anpasst
Die vom Immunsystem, wo sind die eigentlich? Im 3. UG oder oben bei Dr. Cranius? Ich weiss es nicht. Dafür weiss ich, dass das Immunsystem meistens im Spiel sein soll, wenn wir uns angeschlagen fühlen oder ein-fach krank sind. Ich weiss auch, dass wir alles unternehmen sollen, um das Immunsystem zu stärken. Rezepturen dazu liefern alle: Vom Lebensberater über den Naturarzt bis zum Medizinprofessor mit goldgeränderter Brille. In ihrem Hinterland lauern die Produkthersteller. Zu jedem Ansatz bieten sie die passenden Artikel feil. Sie sind auch zur Stelle, wenn das Immunsystem trotz hingebungsvoller Pflege versagt. Meistens sind wir dann von Eindringlingen infiziert. Gegen sie bilden wir eine Antibiose, verordnet der Goldgeränderte. Ja kein solches Gift, das schwächt das Im-munsystem zusätzlich, predigt der Naturverbundene. Alles nur psychisch, wispert der Seelenkenner.
Die Ratschläge schliessen sich gegenseitig aus, und diese Leere führt über kurz oder lang zum Prinzip des Nichthandelns: Seit zwei Jahren sieht mein Wasser aus wie der naturtrübe Apfelsaft, den unsere Grossverteiler als Delikatesse verkaufen. Nach dem homöopathischen Ansatz müsste ich wohl davon trinken, um mein Wasser wieder zu klären. Genau das will ich aber nicht mehr. Ich habe gelernt, mit den trübenden Eindringlingen zu leben. Inzwischen habe ich erfahren, dass ich bei weitem nicht der einzige bin, der so verfährt.
Nichthandeln heisst, sich aktiv auch an scheinbar unmögliche Zustände anzupassen. Wir können das, und diese Fähigkeit ist die goldgeränderte Form der Immunisierung. Sie liegt unsichtbar in uns. Wir müssen sie aber nutzen. Sie hilft auch im Umgang mit Para- und Tetraplegien, vermute ich seit 43 Jahren.
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‹Ansonsten munter – Einsichten eines Rollstuhlfahrers›
Der Einsteig auf Seite 13 (von insgesamt 217)
‹Ansonsten munter – Einsichten eines Rollstuhlfahrers› - so heisst mein biographisch geprägtes Buch. Im Mai 2019 ist es erschienen und so beginnt es:
Am 20. August 2013 treffe ich mich wieder mal mit Pierrot. Wir stehen im Jahre 36 unseres Lebens im Rollstuhl. Das feiern wir nicht. Dafür bejubeln wir immer wieder unsere Verbundenheit. 1977, in der Erstrehabilitation, lag Pierrot im Bett rechts neben mir im Schweizerischen Paraplegikerzentrum, das damals noch in Basel war. Wir hatten zwölf Wochen in Rückenlage abzuliegen. Unsere Köpfe und verletzten Halswirbelsäulen waren eingeschient. So sollten die Wirbel und im besten Falle auch das – bei mir gequetschte, bei Pierrot durchbohrte – Rückenmark wieder zusammenwachsen. Operationen galten damals als zu riskant. Besucher mussten sich über uns beugen, um uns ins Gesicht zu sehen. Setzten sie sich neben dem Bett auf einen Stuhl, ermöglichte ein auf einen Ständer geschraubter schwenkbarer Spiegel den Blickkontakt. Zuvor mussten sie ihn allerdings richten, denn gewöhnlich war er so gestellt, dass ich zu Pierrot rübersah. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel – das weiss ich seither. Sonst verstehe ich nichts von Physik.
Wir befanden uns zu sechst in einem Viererzimmer, ich zum Glück am Fenster. Der Blick ins Freie, in den zumeist grauen Himmel, zerstreute mich etwas und liess mich in diesem überfüllten Raum in die Weite schweifen. Nach der schier endlosen Liegezeit durften wir zusammen in eines der beiden Zweierzimmer im ersten Stock des Hauses. Ursprünglich waren es Einerzimmer. Trotzdem war das ein grosses Privileg. Glück im Unglück.
Pierrot hatte die Zeit unmittelbar nach der Rückenmarkverletzung in Lausanne in einem sogenannten Sandwich-Bett verbracht. Erst als ich den Fensterplatz schon belegt hatte, stiess er zu uns. In seinem Gepäck hatte er Kassetten mit Musik der Rolling Stones und von schwarzen Blues-Interpreten. Ich hatte ein altes, schon lange nicht mehr benütztes Abspielgerät. Die andern vier im Zimmer waren nicht erfreut. Wir vereinbarten mit ihnen, dass sie uns jeden Tag eine Stunde Stones und Blues gewähren. Dafür erzählte Pierrot in der übrigen Zeit unablässig unanständige Witze. Die stellten alle zufrieden.
Nach dem Einstieg kriegen Sie sogar den Ausstieg, die allerletzten Sätze, kriegen Sie zu hören:
Pierrot hatte vielleicht mal höhere Erwartungen, sie aber mit Humor und einer Prise Fatalismus den Umständen angepasst. Trotzdem durchlebte auch Pierrot seine dunklen Momente. So ergeht es uns allen. Dann haben wir unseren Blues. Er wurzelt im leidvollen Dunkeln. Im Blues besingen die Menschen, wie schwer sie es doch haben, ansonsten aber munter sind. Der Blues war Pierrots Musik. Dank ihm ist er auch meine geworden.
4
‹Das achte Weltwunder›
Aus der Erzählung ‹Das achte Weltwunder›
Die P/E-Ratio (PER) ist der Kürzel für Price-Earnings-Ratio, deutsch Kurs-Gewinnverhältnis (KGV). Der erwartete Gewinn, den ein Unternehmen im laufenden Geschäftsjahr erzielen sollte, wird in Bezug zum Aktienkurs gesetzt: Kurs geteilt durch den Gewinn pro Aktie ergibt die P/E. Sie ist eine Faktorzahl. Für eine Aktie von Lamborghini wäre Steve bereit, diesen von Finanzanalysten – hoffentlich richtig – geschätzten Jahresgewinn 25 Mal zu bezahlen. Faktor 25 ist viel, Lamborghini wäre eine teure Aktie. Wenn der Gewinn im Laufe der Jahre stetig und stark steigt, würde sich der hohe Preis aber bald als günstig erweisen. Umgekehrt ist eine Aktie mit einer P/E-Ratio von 10 teuer, wenn sich ihre Gewinne in Zukunft laufend vermindern.
Theoretisch lässt sich das Konzept der P/E auch auf Immobilien übertragen. Wenn Jochens ‹Häusle› einen Ertrag von fünf Prozent einbringen, so haben sie eine P/E-Ratio von 20. 20 Jahresmieten entsprechen dem Ertragswert der Immobilie. Im Immobilienmarkt ist es aber unüblich, die Bewertung so auszudrücken. Auch am Viehmarkt ist nicht von P/E-Ratios die Rede. Intuitiv rechnet aber jeder Bauer, wie viel ihm die erhoffte künftige Milchleistung einer Kuh wert ist. Die Milch, die das Tier bis zu seinem Lebensende liefert, ergibt zusammen mit dem Schlachtwert den Marktpreis. Wer sich die Mühe nimmt, solche Preise nachzurechnen, wird feststellen, dass sie in den meisten Fällen stimmen – stimmen müssen, denn sonst würde das Preisgefüge kollabieren und mit ihm der Bauernstand.
5
‹Das Leben ist auch mit Behinderung lebenswert›
Uns Menschen sind Grenzen gesetzt. Im Wasser bestehen wir nicht lange, klettern fällt uns schwer, fliegen können wir gar nicht. Trotzdem versuchen wir immer wieder, den Rahmen zu sprengen, unseren Handlungsspielraum zu erweitern. Eine schöne Sage aus dem alten Griechenland veranschaulicht das. Auf der Insel Kreta hielt König Minos Dädalos und seinen Sohn Ikaros gefangen. Dädalos wusste, dass er und sein Sohn nur über die Luft entweichen könnten. So baute er für sich und seinen Sohn Flügel aus Vogelfedern. Diese Federn verknüpfte er oben mit Leinenfäden, unten mit Wachs.
Bevor die beiden losflogen, schärfte Dädalos seinem Sohn ein, ja nicht zu tief, aber auch nicht zu hoch zu fliegen. Unten, lehrte er Ikaros, sei das aufschäumende Wasser eine Gefahrenquelle, oben die Hitze der Sonne. Schliesslich erhoben sie sich in die Luft. Kunstvoll schwangen sie ihr Gefieder. Schon bald liess sich Ikaros genussvoll in höhere Luftschichten treiben und kam der Sonne gefährlich nahe. Ihre heissen Strahlen erweichten das Wachs, die Flügel lösten sich auf. Ikaros stürzte ins Meer.
Er hätte auch aufs Festland fallen - verunfallen können. So oder so würden wir einen solchen Sturz noch heute, wenn überhaupt, nur geschädigt überstehen. Der Druck auf den Schädel, der vorübergehende Sauerstoffmangel erschüttern unser Gehirn so, dass wir ein Schädel-Hirntrauma erleiden. Wir könnten auch rücklings aufprallen, die Wirbelsäule brechen und dabei das Rückenmark verletzen. Eine Querschnittlähmung, auch Paraplegie und Tetraplegie genannt, würde das nach sich ziehen. Die meisten Schädel-Hirntraumatiker und Rückenmarkverletzten müssen sich auf ein Leben im Rollstuhl vorbereiten.
Vergleichbar ergeht es vielen älteren Menschen, selbst wenn sie nicht verunfallen. Plötzlich zerstört eine Hirnblutung, auch als Schlaganfall oder Stroke bekannt, lebenswichtiges Gewebe im Gehirn. In seltenen Fällen ereilt das Unglück auch die ganz Kleinen: im Bauch der Mutter bildet sich die Wirbelsäule zu wenig aus und schützt das Rückenmark nicht. Das Kindchen kommt mit einer Spina bifida gelähmt zur Welt. Sauerstoffmangel bei der Geburt schädigt Hirngewebe des Säuglings. Eine Cerebralparese beeinträchtigt ihn fortan. Menschen mit solchen geburtsbedingten Behinderungen sind in vielen Fällen Zeit ihres Lebens an den Rollstuhl gebunden. Es gibt überdies Erkrankungen des Nervensystems, die im Laufe des Lebens eintreten, so etwa Multiple Sklerose oder Parkinson. Sie zwingen die Betroffenen meistens, ihr weiteres Leben mindestens teilweise im Rollstuhl zu führen.
Alle Behinderungen, alle unabänderlichen Einschränkungen, selbst vorübergehende Beeinträchtigungen, bedeuten, dass die Grenzen, die uns eh gesetzt sind, noch enger gezogen sind. Wer sich von Geburt an mit eingeschränkten Möglichkeiten abfinden muss, kennt gar nichts anderes. Geburtsbehinderte sehen zwar, dass ihre zahlreichen Mitmenschen mehr, viel mehr können als sie. Dennoch vergleichen sie nicht, weil sie ein anderes Dasein gar nie erlebt haben.
All die, denen das Schicksal dauerhafte spürbare Einschränkungen zugetragen hat, neigen dagegen zu Vergleichen. Sie unterscheiden zwischen «Vorher» und «Nachher». Sie fühlen sich behindert, die Gesellschaft bezeichnet sie auch als «Behinderte». Wie alle Menschen haben sie jedoch seit Kindesbeinen gelernt, dass wir immer wieder anstossen, geschubst und zurückgedrängt werden. Niemandem steht die Welt ganz offen, niemand ist schon als Tausendsasa zur Welt gekommen. Diese Grunderfahrungen öffnen den Weg, mit Einschränkungen, Behinderungen, körperlichem Versagen umgehen zu können. Das bedeutet, möglichst schnell zu lernen, aus scheinbar wenig viel zu machen, den gegebenen Rahmen zu sprengen. Wie alle anderen Menschen.
Behinderungen verändern unseren Grundtrieb, nach Glück zu streben, nicht. Dieses Streben vereint uns Menschen. Deswegen begegnen wir Menschen mit Behinderung am besten wie allen anderen.